Neuer Anfang !

Nun waren wir also hier, heimatlos, entwurzelt, ohne Vater, ohne Hausrat, ohne Geld und wenig zu essen. Mutter ging mit uns auf die abgeernteten Felder. Wir sammelten alles, was essbar war, z.B. Weizen- und Roggenähren. Die Körner zerkleinerten wir mit einer alten Kaffeemühle und kochten davon mit Wasser einen Brei. Darüber ein wenig Himbeersaft. Wir sammelten Himbeeren, Brombeeren, Fallobst – letzteres mit schlechtem Gewissen. Die Einheimischen waren nicht gut auf uns zu sprechen. Mutter fragte in den Schrebergärten nach Fallobst. Eine Frau sagte zu ihr: „Für soviel Leute wächst hier kein Obst“. Auch ausgewachsenen Spinat erbettelte sie für uns. Dann ging sie auf`s Dorf zu Fuß – 15km hin und 15km zurück – wusch dort für alte Leute die Wäsche für ein paar Kartoffeln und ein paar Eier. Waschmaschinen gab es damals noch nicht. Sie suchte sich im Ort mehrere Putzstellen. Bei einer Frau putzte sie den ganzen Tag für 3.-DM. Für einen Doktor nähte sie weiße Hemden, das Stück für 10.- DM. Die Knopflöcher durfte ich machen, sie hat es mir beigebracht. Allein an jedem Ärmel waren schon 4 Knopflöcher für die Manschettenknöpfe. Es war eine harte Plackerei. Mutter wog in dieser Zeit nur noch 48 kg. Sie hat immer nur für uns Kinder gesorgt und selber am wenigsten gegessen. Großvater half in der Nachbarschaft bei einem Bäcker aus und brachte dafür ein Brot mit nach Hause.
1947 kam die Schwester meiner Mutter aus der DDR. Wir hatten ihr die Zuzugsgenehmigung verschafft. Ein Jahr später kam auch der Schwager aus der CSR. Er war seit Kriegsende in Theresienstadt eingesperrt gewesen. Über das dort Erlebte hat er mit uns Kindern nicht gesprochen. Nun waren wir zu sechst auf ca 25 qm². Erst 1953 bekamen wir eine getrennte Wohnung im selben Haus. 1949 starb Großvater im Alter von 70 Jahren. Sein Leben war nur Arbeit und dann starb er in Armut, „fern der Heimat“ schrieben wir auf seinen Grabstein.
Mutter zählte damals nach, wieviele Männer im besten Alter aus unserer Familie und der näheren und weiteren Verwandtschaft im Krieg geblieben sind. Sie kam auf die Zahl 19. 
Am 19.6.1948 war die Währungsreform. Plötzlich konnte man alles kaufen, aber das Geld fehlte. 

Aus dem 9. Schuljahr wurde ich im Okt. 1948 entlassen und bekam eine Lehrstelle in einem Autohaus, ich war noch nicht 14 Jahre alt. Mein Monatslohn betrug 40.- DM  bei einer 50-Stunden-Woche. Im Frühjahr 1949 konnte ich mir endlich ein Fahrrad kaufen. Es kostete 149.- DM und hatte kein Licht. Es war meine erste eigene Anschaffung. Nun lernte ich Deutschland kennen durch viele Radtouren, welche ich mit Freunden unternahm. 
Meinen Mann lernte ich 1953 kennen und 1955 wurde geheiratet. Wir machten sogar eine Hochzeitsreise mit Motorrad und Zelt bis nach Venedig. Durch eine Reifenpanne in der Schweiz wurde unser Geld so knapp, daß wir mit dem letzten Tropfen Sprit nach Hause kamen. Damals hatte man noch kein Girokonto und keine EC-Karte, mit der man bezahlen konnte. Der Lohn wurde in bar ausgezahlt. Jetzt waren wir zwar verheiratet, aber eine eigene Wohnung bekamen wir nicht. Mutter durfte dann bei der Heimkehrer-Baugenossenschaft mitbauen. Es war ein 2-Familienhaus. Wir hatten aber keinen Anspruch auf diese 2. Wohnung, weil wir als Kinder zu Hause noch keinen Haushalt verloren hatten. Wir nahmen also die Mutter meines Mannes mit ins Haus, welche als Heimatvertriebene und Witwe Anspruch hatte. Der Vater meines Mannes wurde nach dem Krieg in Postelberg von den Tschechen ermordet. Die beiden Omas teilten sich eine Wohnung, sodaß wir nach 5 Jahren Ehe jetzt auch eine eigene Wohnung beziehen konnten. Nach 2 Jahren Bauzeit konnten wir 1960 einziehen, mussten aber noch sehr viel Eigenleistung erbringen. So lernte ich Schubkarrenfahren, Steine schleppen, mauern, Zement mischen und betonieren. 
1961 meldeten wir unser Geschäft an. Anfangs wurde nur abends und am Wochenende in der Garage gearbeitet, da die Arbeitsstelle vorerst beibehalten wurde. 1964 ergab sich die Gelegenheit, eine Tankstelle mit kleiner Werkstatt zu pachten. Mein Mann reparierte die Autos, ich war Tankwart und Wagenwäscher. Natürlich gab es noch keine Selbstbedienung und keine Waschstraße. Alles reine Handarbeit. Im Anfang hatten wir eine 80-90 Std.-Woche. Als wir uns nach einigen Jahren der Aufbauarbeit erlaubten, die Tankstelle etwas früher zu schließen, hörten wir von der Kundschaft oft: „Habt Ihr wegen Reichtum geschlossen“?.

Im Sommer 1966 fuhren wir zum 1. Mal in die Heimat. Am Parkplatz in Karlsbad verursachten wir einen Menschenauflauf. Wir hatten einen Fiat 850 Spider, 2-Sitzer mit offenem Verdeck. Unsere 7-jährige Tochter saß auf einem Kissen zwischen den Sitzen auf der Handbremse. Der Parkplatzwächter lehnte es ab, auf das Fahrzeug aufzupassen, sodaß mein Mann drin sitzen blieb. Wir hörten, wie einer sagte: „Kapitalist“. Heute denke ich, wir hätten ihm unsere Hände zeigen sollen. Hat ein Kapitalist solche Hände ?
Wir haben 3 Kinder, 1959, 62 und 64 geboren. Mutter hat sie mir großgezogen, ich war immer berufstätig. Leider gibt es im Leben immer wieder Schicksalsschläge, die man verkraften muß. So hatte unsere Mutter im Herbst 1988 einen schweren Unfall, der sie zum Pflegefall machte. Eine Einweisung in ein Pflegeheim lehnten wir ab. In den sechs Jahren ihrer Krankheit durften wir sie versorgen und konnten damit ein wenig von dem zurückgeben, was sie für uns ein Lebenlang getan hat. Am 21.12.1994 kurz vor ihrem 84. Lebensjahr ist sie friedlich eingeschlafen. Wenn jemand den Himmel verdient hat, dann war sie es. Sie war der beste Mensch in meinem Leben. 
Unsere Kinder haben alle einen Beruf erlernt. Den Betrieb haben wir schon an die nächste Generation weitergegeben. Wir beide arbeiten aber noch voll mit. Jetzt müssen wir uns öfter anhören: „Habt ihr denn noch immer nicht genug“? Wir hätten schon genug, aber wir können nicht mehr ohne Arbeit sein. Heutzutage nennt man das „Workaholiker“. 

Dazu fällt mir folgendes ein. In der Geschichte der Sudetendeutschen von Rudolf Meixner steht, daß unsere Vorfahren vor 800 Jahren aus den verschiedensten deutschen Gauen gekommen sind. Sie nahmen weite Wege und größte Entfernungen auf sich. Die Aufbauarbeit war hart. Es galt der Spruch:

Dem ersten der Tod, dem zweiten die Not und erst dem dritten, d.h. der dritten Generation, das Brot.
Das paßt doch auch auf uns alle. Einen großen Unterschied gibt es aber doch. Unsere Vorfahren kamen freiwillig ins Land. Wir sind gezwungen worden, unsere Heimat zu verlassen und wieder neu anzufangen. Aber wir sind ein fleißiges Volk und haben es alle wieder zu etwas gebracht.
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